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Unterricht ad absurdum geführt

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Irgendwo in der Schweiz: eine Kindergartenklasse, 20 Kinder, vier Begleitpersonen. Nun kommt neu noch eine «Schul-Supporterin» dazu. Der Aufwand steigt und steigt! Schweizer Bildungspolitik – quo vadis? Gedanken zu einer kostenintensiven Tendenz.

Von Carl Bossard

Es war einmal eine Kindergärtnerin. Verantwortlich für ihre 20-köpfige Schar, zuständig für jedes Einzelne und für das kleine Kollektiv – mit der anspruchsvollen Aufgabe, aus den 20 Individuen eine Gemeinschaft zu bilden und sie auf den Schulübertritt vorzubereiten. Dazu hatte sie Raum und Zeit, und sie hatte vor allem eines: viel Freiheit, verbunden mit der entsprechenden Verantwortung. Kindergärtnerin war der Traumberuf vieler junger Menschen.

Aus eins wurden vier
Was aber ist die Kindergärtnerin heute? Eine Person unter fünf. Mindestens in einer Kindergartenklasse einer grösseren Schweizer Stadt. Hier betreuen und begleiten zum Teil fünf Erwachsene 20 Kinder. Warum diese wunderbare Personenvermehrung?

Das ergab sich so: Vor längerer Zeit machte «Pro Senectute» ein Angebot. Zweimal pro Woche konnte ein pensionierter Pädagoge in der Kindergartenklasse mitwirken. Freiwillig und unentgeltlich. Der praxiserfahrene Senior unterstützte die Kindergärtnerin und arbeitete vor allem mit den Buben. Das Experiment stiess auf positive Resonanz.

Über die verstärkte Integration traten mehr und mehr schwierige Kinder in die Klasse ein. Die Verhaltensprobleme nahmen zu, die Konzentration sank, die Unruhe stieg. Die Folge: Eingestellt wurde eine zweite Kindergärtnerin – dies in Teilzeit und als Ersatz für die fehlende Heilpädagogin. Da waren’s schon drei. Doch die Massnahme griff zu wenig. Die Probleme der verstärkten Integration mit ihren Kollateralfolgen blieben. Neu kam nun eine sogenannte Schulassistentin dazu – stundenweise. Und schon unterrichteten sie zu viert.

Grosses Brimborium für eine fünfte Stelle
Doch das genügte der Bildungspolitik immer noch nicht: Ein berufserfahrener Senior-Pädagoge, eine Schulassistentin und zeitweise zwei Kindergärtnerinnen waren ihr zu wenig. Die eifrige Bildungsverwaltung erfand eine zusätzliche Stelle, und zwar eine ganztätige: die Funktion einer sogenannten «Schul-Supporterin». Diese «Schul-Supporter*innen» begleiten herausfordernde Situationen. So heisst es in der Elterninformation. Zu ihrem Aufgabenfeld gehören die individuelle Prozessbegleitung/das Coaching, die lösungsorientierte Zusammenarbeit mit dem Klassenteam und natürlich die Vernetzung aller im Schulbetrieb beteiligten Personen. Ihr Arbeitsfokus liegt auf der «Stärkung der Inklusionskraft einer Schule».

Wer sich in der Schule auskennt und um den Aufgabenbereich einer Kindergärtnerin weiss, reibt sich die Augen. Was soll das? Das macht doch die Kindergärtnerin! Das steht in ihrem Pflichtenheft! Doch im gleichen aufgeblasenen Wortschwall geht es weiter: Pädagogisch hätten die «Schul-Support*innen» die überfachlichen Kompetenzen zu fördern und eine «Nachhaltigkeit durch Nachbetreuung» zu erreichen, heisst es weiter. Dazu sollten sie die verantwortliche Kindergärtnerin in der Elternarbeit unterstützen.

Bildung braucht Beziehung
20 Kinder mit zum Teil fünf Erwachsenen im gleichen Schulzimmer! Wie kann bei einer solchen Vielzahl von beteiligten Personen eine tragfähige Beziehung entstehen? Wie entwickelt sich in diesem personellen Durcheinander eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens? Aus der Forschung weiss man eines: Im pädagogischen Dreieck zwischen Kind, Unterrichtsgegenstand und Lehrperson braucht es Konstanz und Kontinuität in den Beziehungen. Gutes Lernen erfordert Stabilität und tragende Strukturen. Bildungswirksamer Unterricht beruht auf einer positiven Lernatmosphäre, auf Konzentration und Ruhe.

Fünf verschiedene Personen und 20 Kinder! Und ab und zu taucht anstelle der Schulassistentin ein sogenannter «Zivi» auf, ein Zivildienstler. Welch komplizierte Koordination der vielen Teile! Wie intensive Absprachen da nötig sind, und wie gross die Gefahr der Verantwortungsdiffusion ist. Das Ganze zu koordinieren wird immer anspruchsvoller.

Lückenbüsser ohne pädagogische Ausbildung
Die Signatur der Schweizer Schulentwicklung der vergangenen Jahre ist die Addition: mehr Inhalte, mehr Heterogenität, mehr Personen, mehr Kosten. Das zeigt sich im Bildungssystem als Ganzem, das zeigt sich im Mikrobereich der Klasse. Doch gelöst wurden die Probleme mit der Unruhe in vielen Klassen und den sinkenden Lernleistungen kaum. Im Gegenteil. Und eine Umkehr ist nicht in Sicht. Der Concorde-Effekt! Anders gesagt: Die Bildungspolitik baut kaum ab, was sie mit grossen Versprechen eingeführt hat.

Warum dieses intensive personelle Wachstum pro Klasse? Die Schulreformen schafften die Kleinklassen ab. Alle Kinder sollten in die «Normalklasse» integriert werden. Vorgesehen war darum der gezielte Einsatz von Heilpädagoginnen. Allerdings warnten viele Praktiker vor diesem radikalen Schritt. Es fänden sich kaum genügend solche Spezialisten, argumentierten sie. Flächendeckend sowieso nicht. Die Kritiker bekamen recht. Es fehlt vielerorts an Heilpädagoginnen. So schuf die Bildungsadministration die Zusatzposition von «Klassen- oder Schulassistentinnen». Es sind Personen, die in der Regel über keine pädagogische Ausbildung verfügen und diese Aufgabe als Nebenjob übernehmen.

Mit Zusatzpersonen die Integration retten
Neu kommen sogenannte «Schul-Supporter*innen» dazu. Auch sie sind heilpädagogisch nicht ausgebildet. Mit mehr Hilfspersonal wollen die Schweizer Bildungsbehörden das Experiment der Inklusion retten. Lauter Notmassnahmen! Es erstaunt nicht, dass die FDP Schweiz das Abrücken von der integrativen Schule postuliert und der Ruf nach Wiedereinführung von Kleinklassen lauter wird. Im Kanton Zürich ist gar eine Volksinitiative hängig. Ihr werden guten Chancen zugeschrieben.

Das ambitionierte Programm der Bildungspolitik und die Möglichkeiten der Schule sind längst nicht mehr deckungsgleich. Das zeigt sich konkret an der dargestellten Kindergartenklasse. Wenn heute fünf verschiedene Personen für eine einzige Klasse zuständig sind, müssten die Verantwortlichen doch über die Bücher und Remedur schaffen. Doch das tun sie nicht. Im Gegenteil: Die Bildungspolitik erhöht den personellen Aufwand und damit die Kosten. Die notwendige Korrektur kommt von unten – über Volksinitiativen.


Später Französisch lernen – Appenzell macht’s vor

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Seit Jahren wird in der Schweiz über den «richtigen» Zeitpunkt der frühen Fremdsprachen gestritten. Im Moment lernen die Deutschschweizer Primarschüler Englisch und Französisch. Doch der Schweizer Sprachenkompromiss kommt unter Druck.

Carl Bossard

«Luzerner Jugendliche werden gegenüber früheren Jahrgängen im Französisch schlechter», schrieb CH Media vor Kurzem. Das Niveau sinke, das Interesse an unserer zweiten Landesspräche sei gering. Doch wen erstaunt das? Eigentlich weiss man es schon lange: Viele Schweizer Primarschülerinnen und -schüler sind mit zwei frühen Fremdsprachen überfordert. Bereit 2017 betonte die Zürcher Linguistin Simone Pfenninger: «Man könnte beim Zweitsprachenerwerb dasselbe Ziel auf der Oberstufe mit geringerem Aufwand erreichen.» Ihre Stimme verhallte ungehört. Ungehört blieben auch die Praktiker.

Doch viele Verantwortliche in den Bildungsstäben sind gegen das Offenkundige immun; sie stört kein Zweifel. Das erinnert an Christian Morgensterns messerscharfen Schluss, dass «nicht sein kann, was nicht sein darf».

Grosse Lücken im Fach Deutsch
Wer in der globalisierten Welt modernitätsfähig sein will, braucht eine Fremdsprachenqualifikation. In der Schweiz gehört dazu eine zweite Landessprache. Und da Englisch ohnehin zur Lingua franca geworden ist, sollten die Kinder – zusätzlich zur Deutschkompetenz – mindestens doppelsprachig sein. Hier herrscht Konsens. Doch wann soll mit dem Fremdsprachenlernen begonnen werden? Und wie steht es um die Standardsprache Deutsch? Für viele Kinder ist sie ja auch eine Fremdsprache, zumal man weiss: Fast jeder vierte Schüler verlässt unsere Schulen, ohne dass er richtig lesen und schreiben kann. Eine offene Wunde unserer Gesellschaft!

Frühfranzösisch lässt sich nicht isoliert betrachten. Zu viele Positionen stehen sich diametral gegenüber. Zwei Fremdsprachen bereits in der Primarschule, das fordern die Kosmopoliten. Und ohne Frühfranzösisch bröckle der Kitt der föderalen Schweiz, bekräftigen die offizielle Schulpolitik und der Lehrplan 21. Das sei zu viel, argumentieren erfahrene Pädagogen. Sie verweisen auf die Fächerfülle, die begrenzte Übungszeit und den Sprachverlust in der Muttersprache.

Miserable Resultate fürs Frühfranzösisch
Fremdsprachen in der Volksschule waren lange Zeit Domäne der Sekundarstufe I (7. bis 9. Schuljahr). Die Primarschule beschränkte sich auf wenige Kernfächer. In den 1990er-Jahren führten fast alle Deutschschweizer Kantone Primarschul-Französisch ein, während die welschen Stände den Deutschunterricht vorverlegten. 2000 überraschte der Zürcher Bildungsdirektor und Reformturbo Ernst Buschor mit seinem Brachial-Entscheid: English first. Frühenglisch vor Frühfranzösisch hiess seine Devise. Darum haben wir heute in den ersten sechs Volksschuljahren zwei zusätzliche Sprachen. Einzig Innerrhoden verzichtet in der Primarstufe auf eine zweite Fremdsprache.

Die Alternative Französisch oder Englisch ist verquer. Denn beides ist wichtig – und was wichtig ist, muss richtig getan werden. Doch über den richtigen Zeitpunkt und die Intensität scheiden sich die Geister. Lange Zeit galt der Grundsatz: je früher, desto besser. Das ist nicht prinzipiell falsch. Fraglos lernen Kinder vieles leichter als Erwachsene. Das zeigt sich bei Jugendlichen, die zweisprachig aufwachsen. Ganz anders aber verhält sich die Situation im Klassenverband mit wenigen Wochenlektionen. Bereits 2016 schockierte eine Zentralschweizer Studie: Nur jeder 30. Achtklässler sprach lehrplangerecht Französisch; nicht einmal jeder Zehnte erreichte die Lernziele im Hörverstehen. Unbefriedigend sahen die Resultate auch beim Lesen und Schreiben aus. Da wurde eines klar: Wenn Bildungsidee und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Manchen jungen Menschen verleidet darum Französisch.

Ein kleiner Kanton als Vorreiter
Die Appenzell Innerrhödler machen das Gleiche anders – und das mit Erfolg: Sie verlegten den Französischunterricht von der Primar- in die Sekundarstufe und unterrichten hier mit hoher Kadenz. Sie befreiten die Primarklassen von Französisch und gewannen Zeit fürs Kernfach Deutsch. Bei Vergleichstests liegen sie hier schweizweit an der Spitze. Ihr Grundsatz: Fürs Erlernen einer Fremdsprache braucht es präzise Kenntnisse und automatisierte Ausdrucksfähigkeiten der Muttersprache. Anders gesagt: besser zuerst scharfzüngig Deutsch als vielzüngig ungenau! Erfahrene Lehrpersonen wissen darum. Im Zürcher Kantonsparlament will nun ein Vorstoss den Französisch-Unterricht auf die Sekundarstufe verlegen. Er hat gute Chancen. Die Appenzeller machten es vor.

Publiziert als Gastbeitrag in: CH Media, 04.02.2025, S. 2

Für jedes Kind eine Diagnose und ein Sondersetting

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Die Schule wird zur Therapieanstalt

Die integrative Schule ist gescheitert. Es ist unverständlich, dass sie von einer Bildungselite weiterhin propagiert wird.

Von Sebastian Briellmann, Redaktor NZZ (in: NZZ, 24. Februar 2025, S. 17)

Farben statt Noten: Progressive Schulreformen fördern die Abkehr vom Leistungsprinzip. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

In der Schweiz gibt es seit Jahrzehnten viele Reformen im Bildungssystem, die allesamt von einer technokratischen Elite ausgetüftelt wurden – und bis heute mit Verve verteidigt werden. Diese Bildungselite hat die Deutungshoheit; sie trägt ihre Losung wie eine Monstranz vor sich her: Neu ist immer besser. Es wird am System «geschräubelt», um es zu modernisieren (wie das dann gerne genannt wird), weil man damit angeblich der Realität gerecht werde.

Es interessiert die Macher offenbar wenig, was die Neuerungen den Schülern genau bringen – und auch nicht, was die Lehrer davon halten. Dass viele Praktiker eine gegenteilige Meinung vertreten, verkommt deshalb oft zur Randnotiz. Niemand weiss, was eine solche Reform wirklich bewirkt hat. Es gibt kaum statistisch haltbares Material dazu. Warum auch? Wer seine Projekte untersuchen lässt, dem droht allenfalls ein wenig schmeichelhaftes Resultat.

Das beste schlechte Beispiel dafür ist die integrative Schule. Sie sollte dafür sorgen, dass jedes Kind bestmöglich betreut wird. Chancengerechtigkeit war das Schlagwort. Kein Stigma mehr für die Schwächeren, keine Ausgrenzung. Alle zusammen in einer Regelklasse? Klang wunderbar, fair, divers, fortschrittlich. Die stärksten Schüler helfen ihren Gspänli, man bringt sich gemeinsam vorwärts, der Lehrer unterrichtet nicht mehr hauptsächlich, sondern coacht, begleitet.

Erschreckende Resultate

Die Wahrheit ist eine andere. Das vielleicht eindrücklichste Bild lieferte eine Basler Lehrerin, die der Sendung «Reporter» des Schweizer Fernsehens die Realität – die alle, die wollten, schon kannten – erstmals auch in Farbe und Ton bekanntmachte: Es herrsche Überforderung, ständige Unruhe, Verzweiflung bei den Pädagogen. Auf der Wandtafel wurden, primarschulgerecht, alle achtzehn Schüler der Klasse aufgezeichnet und dazu mit farbigen Magneten dargestellt, wie viele von ihnen mindestens ein sogenanntes Sondersetting erhalten. Das erschreckende Resultat: Nur ein einziges Kind ging ganz normal in die Schule, also ohne zusätzliche Massnahmen, die Hälfte der Klasse hatte mindestens zwei solcher Sondersettings – manche noch mehr.

Es gilt, anzumerken, dass es sich um eine Primarschule in einer strukturschwachen Gegend mit hohem Migrationsanteil handelt, aber das Phänomen tritt überall auf. Es überrascht nicht, dass die Leistungen der Schweizer Schüler insgesamt wenig erbaulich sind. Ein Viertel der 15-Jährigen kann nicht richtig lesen. Schreiben muss derart altmodisch sein, dass viele Schüler kaum mehr von Hand schreiben können. Mittlerweile mehren sich sogar an den Universitäten die Klagen, dass Prüfungen kaum korrigierbar seien, weil die Professoren nicht verstünden, was die Studenten sagen wollten.

In der Mathematik ist es zwar leicht besser, aber auch dort erreicht ein Fünftel das Mindestmass nicht (ebenso in den Naturwissenschaften). Im internationalen Vergleich ist die Schweiz zwar – je nach Fach: oberes – Mittelmass, aber nur, weil die anderen Länder noch viel schlechter geworden sind.

Wirklich überraschend ist das nicht, wenn man sich die heutige Volksschule anschaut. Das ist, salopp gesagt, keine Schule mehr. Sondern eine Therapieanstalt. Befürworter der integrativen Schule sagen es selbst: Jedes Kind muss diagnostiziert werden, um es «bestmöglich» zu betreuen. Das führt dazu, dass der Lehrer keine Autorität mehr ist. Die Kinder werden für schlechtes Betragen nicht mehr vor die Türe geschickt, sondern in ein separates Zimmer – betreut von einer weiteren Lehrerin. Man nannte das zuerst soft «Schulinsel». Heute ist es ein «erweiterter Lernraum». Statt einer Bestrafung klingt das wie die Belohnung für einen Hochbegabten, der seine Aufgabe bereits gelöst hat.

Farben statt Noten

Obwohl: Eine solche Klassifizierung in gute und schlechte Schüler ist wahrscheinlich bereits heikel. Denn jedes Kind habe ja Talente, die individuell gefördert werden müssten, sagen die Reformer. Darum ergeben auch Noten keinen Sinn mehr. Aber offenbar helfen Farben. In den heterogenen Regelklassen bekommen schwache Schüler einen «Nachteilsausgleich», ein weiteres Modewort. Mehr Zeit für einen Test. Vorlesen der Aufgabe. Weniger Fragen. Oder weniger schwierige. Manche erhalten überhaupt keine Bewertung mehr, sondern eine Bestätigung: dass sie auch im Unterricht dabei waren («besucht»). Dafür sollen sie «selbstorientiert» lernen, damit sie «resilient» werden, und das «altersdurchmischt»: Das bedeutet, gerade für überforderte Schüler, nur noch mehr Stress. Solche Schwierigkeiten werden bagatellisiert – oder gleich ganz ignoriert.

Was soll daran integrativ und im angedachten Sinn sogar förderlich sein? Kinder wissen ganz genau, wo sie gut und wo sie schlecht sind. Keines freut sich im Skirennen über die Goldmedaille, wenn es den letzten Platz belegt. Trotzdem hat man heute das Gefühl, alle gleich auszeichnen zu müssen. Das ist nicht Chancengerechtigkeit, sondern eine selbstgerechte Inszenierung: Das Vorgaukeln von Fairness für alle zeigt die Ungerechtigkeit in Wahrheit umso brutaler auf. Die guten Schüler tragen mittlerweile einen Gehörschutz, damit sie sich konzentrieren können. So gross ist die Unruhe in vielen Klassenzimmern, was unvermeidbar ist, wenn nebst der Lehrerin noch eine Assistentin, noch ein Heilpädagoge und noch eine Logopädin im selben Raum unterrichtet, begleitet, coacht.

Zusätzlich sorgen auch Sondersettings ausserhalb des Unterrichts für Unruhe. Psychomotorik, zusätzliche Deutschförderung, ein Time-out: Immer wieder müssen Kinder lektionenweise die Regelklasse verlassen, um danach wieder zurückzukehren. Denken sie dann wirklich, dass sie gleich gut sind (oder behandelt werden) wie die anderen? Der renommierte Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach sagte in der NZZ, dass solche Lernformen den Schwächeren sogar schadeten. Es ist schwer verständlich, warum viele Lehrerverbände an diesem System, das viele Verlierer kennt, festhalten wollen.

Unbestritten ist nämlich, dass es in jeder Klasse einen Kipppunkt gibt: Gibt es zu viele verhaltensauffällige Kinder, leidet die Leistung von allen. Dieser Kipppunkt liegt bei 15, eher 20 Prozent. Das bedeutet: Wären von zwanzig Kindern vier in einem getrennten Unterricht besser aufgehoben, scheitert das integrative System.

«Anleitung, Üben, Korrektur»

Der nationale Lehrerverband mag nun, wie immer, einwenden, dass es einfach mehr Geld für mehr Ressourcen – Lehrer, Therapieangebote, Räumlichkeiten – brauche: Aber das ist eine Forderung, die gleich doppelt entlarvend ist: Erstens zeigt sie, dass die offiziellen Auskunftspersonen die Kinder weniger unterrichten und mehr behandeln wollen. Und zweitens ist der Glaube, dass mehr Geld die Probleme löst, ein zweifelhafter: Das Bundesamt für Statistik wies für 2021 aus, dass der Personalbedarf pro Schüler knapp 15 000 Franken im Schnitt betrug – 50 Prozent mehr als am Anfang dieses Jahrtausends. Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) hat zudem nachweisen können, dass mehr Geld nicht zu klügeren Schülern führt. Das heisst nicht, dass sich Investitionen in das Bildungssystem nicht lohnten, aber für eine erfolgreiche schulische Karriere ist das Geld nicht entscheidend.

Ein solches Argumentarium gilt dem Bildungsestablishment aber als ewiggestrig. Diese Geisteshaltung ist deswegen auch an den pädagogischen Hochschulen (PH) dominant. Die Lehr- und Lernforscherin Esther Ziegler hat das Problem der PH in der NZZ auf den Punkt gebracht: «Man soll nicht mehr frontal unterrichten, soll weniger vorzeigen und erklären. Auch korrigieren ist ein Stück weit verpönt. Stattdessen sollten die Kinder selbstorganisiert arbeiten, in ihrem Tempo. Das führt dazu, dass sie ihre Aufgaben mit ihren Banknachbarn lösen. Vieles läuft über Abschreiben.» Kinder brauchten jedoch «Anleitung, Üben, Korrektur».

Das sind unerlässliche Grundkompetenzen. Aber zu langweilig für die Ausbildner? Heute definiert sich die Schule über Frühfranzösisch, teilautonome Schulen, selbstorientiertes und altersdurchmischtes Lernen, Output-Orientierung. Das klingt alles schön, aber gebracht hat es nichts. Die Leistungen werden immer schlechter, die Bürokratie ufert dafür aus. Weil verkannt worden ist: Die Schule kann man nicht von aussen entwickeln, das tun die Pädagogen, von Generation zu Generation, mit neuen Ideen, Absichten und Konzepten. Das sagen erfahrene Praktiker schon lange. Aber bei Reformen werden ausgerechnet die Lehrer oft gänzlich aussen vor gelassen. Die angehenden Lehrer an den PH sollten wieder mehr auf ihre erfahrenen Kollegen hören. Wer noch ein Lehrer-Semi absolviert hat (und somit weiss, wie sich die Reformen ausgewirkt haben), stimmt wohl nicht zu, wenn an den PH gelehrt wird, dass Autorität etwas Schlechtes sei – was passiert, wie ein Lehrer in dieser Zeitung anschaulich erklärt hat.

Doch die Hochschulen sind nicht nur Hort des links-progressiven Denkens, sondern sie nivellieren auch das Ausbildungsniveau nach unten. Oft lehren berufsfremde Dozenten, die Zulassungsbedingungen werden wegen zu weniger Lehrer immer mehr gelockert. Dabei ergab eine Untersuchung, dass es gar keinen Mangel gäbe, würden alle Teilzeitlehrer ihr Pensum um nur 10 Prozentpunkte erhöhen. Auch die Präsenzpflicht wird gelockert. Es muss der Verdacht erlaubt sein, dass der Leistungsgedanke in dieser Ausbildung nicht mehr viel zählt und in den Klassenzimmern nicht mehr verbreitet wird. In der immer noch meritokratischen Gesellschaft kommt für die Schüler nach einer oftmals leistungsfreien Laufbahn (spätestens) dann der Schock, wenn sie ins Berufsleben eintreten oder studieren wollen.

Nüchtern betrachtet, ist die Sache klar: Es braucht die endgültige Abkehr von der integrativen Schule. Die Reform mag gut gemeint gewesen sein, aber sie hat die Schüler schlechter gemacht, die Lehrer zusätzlich belastet, ein Unterrichten ist so kaum möglich. Das hat – mit reichlich Verspätung – auch die Politik gemerkt. In verschiedenen Kantonen wird das Ende des Experiments gefordert. Nebst der SVP tut dies nun auch die FDP. Das ist ein Anfang.

Was Widerstand von unten bewirken kann

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Wieder segelte eine Reform unter der Devise «kompetenzorientiert statt wissensbasiert». Bei der Berufsbildung sollte darum die schriftliche Abschlussprüfung wegfallen. Gegen die Pläne aus Bundesbern regte sich erfolgreich Widerstand. Auch aus den Reihen der Parteien. Ein Kampf zwischen der Berner Bildungsverwaltung und der Basis in Kooperation mit der Politik.

Von Carl Bossard

In der Schweizer Bildungspolitik gibt es so etwas wie einen geradezu euphorischen Rausch, der immerzu nach dem Neuen giert – und sich dadurch blind macht für das Bewährte, für das «alte Wahre». Davon hat Goethe noch gewusst. Eben: Kann in diesem «alten Wahren» nicht sogar mehr Erfahrung und Weisheit stecken, als diejenigen träumen, die sich stets vom Neuen begeistern und verführen lassen? Nicht umsonst hat Erich Kästner vor den «ewig Morgigen» gewarnt. Doch vor den «ewig Gestrigen» fürchtete er sich ebenso. Auch in der Schule braucht es die konzentrierte und stetige Suche nach dem wissenschaftlich als relevant erwiesenen Wichtigen. Doch dieses Ringen wird erschwert, wenn die Bildungspolitik – wie sie es in den vergangenen Jahren getan hat – nach immer Neuem und Aktuellem ruft, dabei fast jedem zeitgeistigen Modetrend folgt und den Unterricht so in Dauertrab und Atemnot bringt.

Gegen den Wegfall der Schlussprüfung
Bewährtes und Grundlegendes optimieren oder einfach umstrukturieren und Bestehendes aufheben? Das war auch bei der Reform der Berufslehre die Frage: Der Bund mit dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) wollte die schriftliche Lehrabschlussprüfung im allgemeinbildenden Unterricht (ABU) abschaffen. Nicht berufsspezifische Fragen stehen hier im Zentrum, sondern Themen und Grundlagen aus dem Bereich Deutsch, Gesellschaft und Politik, Wirtschaft und Recht. Sie sind wichtig und bilden das Wissensfundament für die intendierten Kompetenzen. Neben dieser Prüfung in den ABU-Fächern gibt es eine vertiefende Arbeit. Sie sollte künftig stärker gewichtet und mündlich geprüft werden. Dafür hätte das schriftliche Schlussexamen verschwinden müssen. So das Reformvorhaben aus den Berner Beamtenbüros.

Gegen die Elimination dieser Prüfung wehrten sich die Praktiker, allen voran der Zürcher Verband der Lehrkräfte in der Berufsbildung mit ihrem Präsidenten Konrad Kuoni. (1) Der Wegfall der Lehrabschlussprüfung vor Ort schwäche den Stellenwert des allgemeinbildenden Unterrichts – und damit der gesamten Berufslehre, argumentierten die Berufsschullehrer. Zudem bestünde die Gefahr, dass die selbständige Hausarbeit leicht über KI oder mithilfe von ähnlichen Tools verfasst würde.

Prüfung beibehalten: breiter Sukkurs der Politik
Opposition kam auch aus der Politik. Ihre Meinung war klar und unmissverständlich. Alle Parteien sprachen sich für den Weiterbestand der Abschlussprüfung bei – mit Ausnahme der Grünen. Für sie bedeute das neue Konzept mit dem Wegfall des schriftlichen Schlussexamens eine Aufwertung, betonte die grüne Zürcher Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber.

Mit der geplanten Reform scharf ins Gericht ging die FDP Schweiz. Für die Liberalen bedeutete die Reform das jüngste Kapitel in einer Reihe gescheiterter Bildungsexperimente; sie sprachen gar von einem Angriff auf die Berufslehre. «Die FDP stellt sich [darum] entschieden gegen die geplante Abschaffung der schriftlichen Abschlussprüfung im Allgemeinbildungsunterricht.» (2) Gleich votierten die WBK-Kommissionen (Wissenschaft, Bildung und Kultur) des Nationalrats und des Ständerats; beide wollten die Schlussprüfung beibehalten. Die FDP plante für die Märzsession eine Motion. (3)

Die andere Sicht des Staatssekretariats SBFI
Die Abschaffung der Schlussprüfung kam als Projekt aus dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Den Berufsschulen sollte es von oben und gegen den Willen ihrer Lehrerinnen und Lehrer aufoktroyiert werden. Es war aber nicht nur die Basis, die sich gegen die Reform stellte: Auch eine Mehrheit der Kantone, der Verbände, der Ämter und der Bildungsinstitutionen wehrte sich. Doch das SBFI hielt bis zuletzt eisern am geplanten Vorhaben fest. Der Exponent des Widerstandes, Konrad Kuoni, meinte: «Das ist, als würde man am Ende des Gymnasiums auf die Maturitätsprüfungen verzichten und lediglich auf Zeugnisnoten und Maturaarbeit setzen.» (4)

Wegleitend bei der Neukonzeption der Lehrabschlussprüfungen war die Idee der Kompetenzorientierung. Die Reform sollte sie «erhöhen», sagte Corinne Hadorn, Studiengangsleiterin ABU an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB. Sie hat die Reform mitgeprägt. Entscheidend sei, dass man nicht mehr Wissen abfrage, sondern Kompetenzen prüfe, betonte sie. (5)

Ohne Wissen kein Können
Mit dieser Aussage formulierte Hadorn eine unsägliche Dichotomie: ‘kompetenzorientiert’ versus ‘wissensbasiert’. Wie wenn das eine ohne das andere möglich wäre! Ohne grundlegendes Wissen kein Können. Kompetenzorientierung baut auf profunder Wissensbasis, sonst ist sie orientierungslos. Erst ein fundiertes Grundlagenwissen ermöglicht Kompetenzen. Wie kann ich denn etwas kritisch hinterfragen, wenn ich die Probleme und Phänomene nicht kenne und verstehe und sie nicht einordnen kann, beispielsweise nach den klassischen Kriterien von politisch, ökonomisch, sozial, kulturell?

Kein verantwortungsbewusster Lehrer, keine kompetente Lehrerin ruft an Prüfungen einfach Faktenwissen ab, wie die Reformer suggerierten. Erfahrenen Lehrpersonen ist bewusst: Wissen bildet die Basis für Verstehensprozesse. Kritisches Hinterfragen gründet darum auf systematisch aufgebauten Wissensstrukturen. Sie sind das Fundament für anspruchsvolles Denken, Urteilen und Handeln.

Autonomie und Verantwortlichkeit des Einzelnen bilden
Eine Schlussprüfung kann das nochmals verifizieren. Darum auch wehrten sich die Praktiker – und mit ihnen viele bildungspolitische Verantwortliche – gegen die Abschaffung der Lehrabschlussprüfung. Hier zeigt sich das Bildungsziel: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Es ist eine Bildung, die nach aufklärerischer Tradition die Autonomie und Verantwortlichkeit des Einzelnen meint. Das macht ihren Wert aus.

Vielleicht erschliesst sich daraus etwas vom «alten Wahren», von dem, was immer gilt und keinem Verfalldatum unterliegt. Der Wegfall wäre ein Verlust gewesen. Das Reformprojekt wurde Ende Februar gestoppt; der Bund schafft die Lehrabschlussprüfung nun noch nicht ab. (6) Dank dem Widerstandsgeist von unten. Vielleicht zeigt er bildungspolitische Signalwirkung.


Literatur und Links

  1. Nina Fargahi, Lehrabschluss ohne Prüfung: Eine Reform sorgt für Streit, in: TagesAnzeiger, 21.02.2025, S.19
  2. Vgl. https://www.fdp.ch/aktuell/medienmitteilungen/medienmitteilung-detail/news/die-volksschule-ist-demontiert-nun-greifen-linke-buerokraten-die-berufslehre-an [abgerufen: 02.03.2025];
  3. Sebastian Briellmann, Eine Lehre ohne Abschlussprüfung, in: NZZ, 18.02.2025, S. 9
  4. Ders., Komfort zählt mehr als Leistung, in: NZZ, 03.01.2025, S. 7
  5. Vgl. https://www.srf.ch/news/schweiz/lehrabschlusspruefungen-keine-schriftliche-schlusspruefung-mehr-im-fach-allgemeinbildung [abgerufen: 02.03.2025]
  6. Vgl. Matthias Venetz, Der Bund schafft die Lehrabschlussprüfung noch nicht ab, in NZZ, 01.03.2025, S. 9

Schweizer Bildung im Blindflug?

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Er ist kein Mann der lauten Töne, der Bildungsforscher Stefan Wolter, doch er macht sich weithin hörbar Sorgen um die Lernleistungen der Schweizer Schüler. Sie seien deutlich schlechter geworden, und das Schlimme: Der Einbruch interessiere kaum jemanden. Ein Blick in die aktuelle Debatte.

Carl Bossard

Schule ist vor allem Unterricht. Und alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr eines guten Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrerin, Lehrer und der Schulklasse, den Kern der Schule. Es ist das pädagogische Dreieck zwischen Ausbildner – Schülerin – Unterrichtsinhalt. Hier drin, in diesem Resonanzraum, spielen sich die pädagogischen Kernelemente des Unterrichts, die Mikroprozesse des Lernens, ab. Hier entwickeln sich die individuellen und sozialen Bildungsprozesse. Hier entsteht die Ausbildungsqualität. Das wissen wir aus der Lern- und Unterrichtsforschung. Doch dieser Kern, das zielgerichtete Lernen, geht zunehmend vergessen.

Es sind die Grundkompetenzen!
Diesen Eindruck erhält, wer in den öffentlichen Diskurs um die aktuelle Schule hineinzoomt, beispielsweise in eine Sendung des Schweizer Radios über die «Schule für alle». Der integrative Unterricht wird im Moment landauf, landab heftig und kontrovers diskutiert, auch im SRF-Beitrag.(1)

Das Schulmodell mit möglichst allen und ganz unterschiedlichen, auch verhaltensauffälligen, Kindern in der Regelklasse kommt unter Druck. Nicht zuletzt auch wegen sinkender Lernleistungen: Ein Viertel der Schweizer Schulabgänger verfügt über keine adäquaten Kompetenzen in den Grundlagenfächern. Konkret: Sie können nicht genügend gut lesen, schreiben, rechnen. Viele sehen darum das Modell als gescheitert an und fordern eine schnelle Abkehr und die Rückkehr zu Kleinklassen. Eine bürgerliche Mehrheit im Zürcher Kantonsrat verlangte Anfang März von der Bildungsdirektion eine Kurskorrektur. «Das System der totalen Integration muss hinterfragt werden, bevor es zusammenkracht», so der Motionär Christoph Ziegler, Lehrer und GLP-Politiker. Und dezidiert fügte er bei: «Kleinklassen müssen wieder eine echte Option sein.» (2)

Dogma kontra Realität
Eine solche Kehrtwende kommt für die Gegenseite nicht in Frage. Für die SP ist die integrative Schule alternativlos, wie auch ihr Parteitag in Brig von Ende Februar gezeigt hat. Für viele bedeutet sie gar ein Menschenrecht. Ein Zurück gibt es darum nicht. Dazu die Züricher Bildungsdirektorin Silvia Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.» (3) So wird Inklusion zum Dogma; es will die schwierige Realität in vielen Klassenzimmern schlicht nicht anerkennen.

Die konkrete Situation im pädagogischen Alltag und die Folgen der verstärkten Integration debattierten in der SRF-Sendung die Zürcher FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois und die SP-Nationalrätin Simona Brizzi. Die Aargauer SP-Politikerin betonte die Schule für alle und die Chancengleichheit. Allerdings sei das ein ambitiöses Ziel und der Weg äusserst anspruchsvoll. Es gäbe viele Bespiele, dass Integration gelingen könne. Konkret nannte sie die Schule Spreitenbach im Kanton Zürich. Es brauche aber weiterhin Geduld und vor allem mehr Ressourcen.

Das Schulsystem braucht eine Korrektur
Einen frappanten Kontrast formulierte die berufserfahrene Pädagogin Yasmine Bourgeois. Für sie hat sich der integrative Unterricht zu wenig bewährt. Er benachteilige lernschwächere Kinder und behindere den Regelunterricht. Dazu komme der hohe Koordinationsaufwand unter den vielen, oft bis zu zehn Betreuungspersonen pro Klasse. Sie sprach vom enormen Administrationsaufwand und der grossen Unruhe im Schulzimmer durch den ständigen Wechsel und die Verantwortungsdiffusion zwischen den involvierten Lehrkräften.

Das System könne, so Bourgeois’ Fazit, die Ansprüche nicht erfüllen. Die Probleme seien dermassen gravierend, dass es dringend einer Korrektur bedürfe.

Wenn die Organisation dominiert
Es ist fürs Lernen konstitutiv und sei darum wiederholt: Alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr eines guten und konzentrierten Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrperson und Schulklasse, den Kern der Schule. Doch dieser Kern ist gefährdet. Davon warnte Yasmine Bourgeois. Simona Brizzi, Dozentin an der PH Zürich, dagegen verteidigte das System mit Verve.

In Brizzis Optik stehen organisatorische Themen im Blickfeld und die Massnahmen, die «vor Ort gemacht würden». Gleich mehrmals kam sie auf die «Organisation vor Ort» zu sprechen. Was aber «vor Ort» genau getan wird oder getan werden sollte – nämlich gelernt, und das intensiv und zielgerichtet –, davon war keine Silbe zu vernehmen! Aus der Forschung aber wissen wir: Interaktion kommt in der Wirkung vor Organisation.

Wenn das Lernen in den Hintergrund rückt
Das Lernen der Schülerinnen und Schüler ist im aktuellen Diskurs um eine gute Schule zum Fremdwort geworden. Da war von Absprachen die Rede und von mehr Ressourcen, von Rollenaufteilung und Flexibilität: lauter Oberflächenmerkmale! Nur eines kam nicht zur Sprache: das Gestalten qualitativ anspruchsvoller Bildungs- und Lernprozesse. Das Verstehen, das gemeinsame und individuelle Üben und Festigen, das Abrufen und Anwenden des Gelernten, darüber wurde heftig geschwiegen: Doch es wäre das, was nachhaltiges Lernen ausmacht.

Dieses Wegschauen vom Eigentlichen und Wesentlichen in Schule und Unterricht hat mit dem «Blindflug» unseres Unterrichtswesens zu tun, von dem der Bildungsforscher Stefan Wolter, Universität Bern, kürzlich in der NZZ gesprochen hat. Er führe in unseren Schulen zu nachlassenden Lernergebnissen oder wörtlich: zu «schlechteren Leistungen». Und Wolter resümierte: «Alle stehlen sich aus der Verantwortung.» (4)

Die schleichende Erosion der Ausbildungsqualität in einem der teuersten Bildungssysteme der Welt ist eine Tatsache. Das zeigen Daten und Vergleichstests. Wann endlich erwachen die bildungspolitischen Schlafwandler?


Literatur und Quellen
  1. https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/die-integrative-schule-ist-unter-druck?partId=WXRFY6acKHhcuY-8dq8CCHlFQC4
  2. Jigme Garne, Der Kanton sägt an der integrativen Schule, in: TagesAnzeiger, 04.03.2025, S. 19; vgl. auch: Giorgio Scherrer, «Wir haben die Probleme unterschätzt». Interview mit Christoph Ziegler, in: NZZ, 05.03.2025, S. 12
  3. Nils Pfändler, Lena Schenkel, «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15
  4. Sebastian Briellmann, «Wir sind im Blindflug». Interview mit Stefan Wolter, in: NZZ, 04.03.2025, S. 9

«Mein Lehrer hat mich zum Schriftsteller gemacht»

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Peter Bichsel als Primarlehrer 1965 in Zuchwil (Bild: Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Photopress).
Peter Bichsel als Primarlehrer 1965 in Zuchwil (Bild: Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Photopress).

 

Zum Tod des Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel (1935-2025) – ein pädagogisches Postskriptum:

«Mein Lehrer hat mich zum Schriftsteller gemacht»

Kaum eine Tageszeitung, kaum eine Wochenpublikation, die Peter Bichsel und sein literarisches Schaffen nicht gewürdigt hat: als politischen Poeten, als Kolumnisten, als bundesrätlichen Redenschreiber. Seltsam wenig war vom pädagogischen Denker Bichsel zu hören. Eine persönliche Erinnerung.

Carl Bossard

Es gibt Bücher, die gehen unter die Haut; sie bleiben darum im Gedächtnis. Ein Leben lang. Zu ihnen zählt das schmale Bändchen mit sieben «Kindergeschichten». (1) Sie wurden zum literarischen Evergreen, wie es der Literat Peter von Matt ausdrückt. Daraus trug der junge Peter Bichsel auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Zug vor. Das war 1969. Die Redaktion der damaligen Zuger Nachrichten hatte mich «zum Schreiben» geschickt. «Amerika gibt es nicht. Peter Bichsel liest aus eigenen Werken», so überschrieb ich den kleinen Beitrag für die Zuger Lokalpresse.

Mit «Was wäre, wenn?»-Fragen die Welt betrachten
Noch heute erinnere ich mich an den Abend im Gotischen Saal des Stadtzuger Rathauses, noch heute habe ich Peter Bichsels näselnde Stimme im Ohr, höre ich seine schlanken, schlichten Sätze, lausche ich seiner legendären literarischen Miniatur «Ein Tisch ist ein Tisch». Bichsel las seine «Kindergeschichten», ganz einfache, mit ganz gewöhnlichen Titeln: «Die Erde ist rund», «Der Mann mit dem Gedächtnis», «Jodok lässt grüssen». Doch ist das ganz einfach? Oder steckt dahinter nicht viel mehr?

Bichsel ist getrieben von der Sehnsucht nach einem ursprünglichen Betrachten der Welt. Es gleicht den Fragen eines Kindes; so legt er es uns nahe. Das Kind im Essay «Die grammatikalische Zukunft» will am Mittwoch von seiner Mutter wissen: «Was wäre, wenn Donnerstag wäre?» Die ungeduldige Mama kann mit der Frage nichts anfangen und reagiert unwirsch: «Frag nicht so saudumm.» Doch der Erzähler kommentiert: «Vielleicht weiss das Kind, oder ahnt es, dass die Frage unbeantwortet ist. Vielleicht will es nichts anderes, als seine Mutter ins Unbeantwortbare verlocken, ins Absurde, ins Konjunktivische, ins ‹Was-wäre-wenn›». (2) Die naive Kinderfrage nach der Fiktion. Denn nur das Denken des Unmöglichen erweitere die Basis des bewusst Anerkannten, so Bichsel. Kinder lebten in Fragen, Erwachsene in Antworten, sagt er im gleichen Essay.

Peter Bichsels bekanntes Autogramm
Peter Bichsels bekanntes Autogramm

Bichsels Blümchen als Dichtersignatur
Wie gerne haben meine Primarschüler sie später gelesen, diese kurzen Kindergeschichten: herrliche Geschichten für Erwachsene auch – Klassiker der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Sie führen Kleine wie Grosse ins Nachdenken. Über Fragen der Zeit. In skurrilen Sequenzen verbergen sich poetische Meditationen über den Menschen in den Bedingungen seiner Tage. Unter Leichtem und Heiterem, hinter Launigem und Schrulligem versteckt sich Ernstes, Schweres, Schwieriges. Es sind kurze Texte in einfacher Sprache und mit epischer Kraft. Ohne Zufälliges, ohne Verlegenes, ohne Erzwungenes.

Unvergessen, wie Peter Bichsel sie damals (vor-)gelesen, unvergessen auch, wie er signierte. Er beliess es nicht einfach bei seiner Unterschrift und dem Namen des Zuhörers, nein, er zeichnete noch eine Art Blume dazu. Die dünne Pflanze wurzelt in etwas Erdigem. Über die Seite wächst sie empor. Bichsels Blümchen «blüht» noch heute; das Papier dagegen ist längst vergilbt.

Bichsels pädagogische Leitfrage
1955 wird der 20-jährige Bichsel Volksschullehrer im Kanton Solothurn. Und so erzählt er auch von Pädagogen, denen es gelingt, im Leben eines anderen Menschen Anlass zu sein, dass dieser zu dem wird, der er ist. Da ist beispielsweise seine Erstklasslehrerin: «Ich erinnere mich noch sehr deutlich an meinen ersten Schultag. Ich erinnere mich, wie ich mich augenblicklich in meine Lehrerin verliebte: für mich die einzige Erklärung dafür, dass ich kein Schulversager wurde. Ich könnte ihr Kleid noch heute beschreiben.» (3)

Und da ist vor allem Kurt Hasler. Von ihm berichtet Bichsel: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.» (4) Dieser Lehrer, so Bichsel, sei der einzige gewesen, der seine Aufsätze gut fand. Er habe ihn ermutigt, an sich selbst zu glauben. (5) Der berühmte Pygmalion-Effekt! Vielleicht des Lehrers wichtigster Beitrag zur Entfaltung eines menschlichen Lebens.

Kinder brauchen Geschichten
Für Peter Bichsel bedeutsam bleibt – wen erstaunt’s? – das Erzählen. In seinen Geschichten ist ja immer die Annahme enthalten: Die Welt lässt sich nicht einfach in Information verwandeln, sie lässt sich nicht einfach verarbeiten und verwalten – und auch nicht auf schulische Arbeitsblätter reduzieren. Nein, man muss sie erzählen. Nur so würde das Widerständige der Wirklichkeit sichtbar: Bichsel Verständnis von Erzählen als einer widerständigen Handlung, wie es der Zürcher Hochschullehrer für Literatur, Philipp Theisohn, ausdrückt.

Bichsel ermutigt zum Erzählen – ähnlich wie beispielsweise der Schweizer Lernpsychologe Hans Aebli. Der Berner Hochschullehrer, Assistent von Jean Piaget, zählt das «Erzählen und Referieren» zur ersten seiner zwölf Grundform des Lehrens. (6) Sie sind in der heutigen Pädagogik nahezu verdrängt und vergessen. Ihr Wert aber bleibt. Bichsels Botschaft und Aeblis wissenschaftliche Analyse erinnern daran. Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten. Das gilt auch für die Schulkinder.

Etwas pointiert formuliert, meint der Erzähler Bichsel gar, man könne auch die Grammatik erzählen. Man müsse sie nicht pauken. Er ist vom Bedeutsamen des Erzählens überzeugt – auch im Unterricht.

Wenn Lehrer zu Bildungsvollzugsbeamten werden
Und immer wieder denkt der Lehrer-Dichter Peter Bichsel über die «Verführung» zum Lernen nach, und über den Stoffdruck, dem sich Lehrpersonen ausgesetzt sähen. Das habe Folgen – auch für die Kinder und die natürliche menschliche Lernwilligkeit. Leicht ginge sie verloren. „Ich bin – vorbereitet durch ältere Kameraden, vorbereitet durch meine Mutter – als Lernwilliger in die Schule gegangen. Aber man liess mir in der Schule nicht einmal das Erlebnis des Lernens. Ich habe das Lernen, auf das ich mich so freute, nicht bemerkt, weil man glaubte, mich mit Spielchen, Klebförmchen, mit Äpfelchen und Birnchen zum Lernen verführen zu müssen.»

Zu viele Inhalte in zu kurzer Zeit. Ohne die notwendige Musse, ohne das so wichtige Verweilen. Auch «die Schullehrer [litten] unter dieser «professionellen Bildungshysterie […], denn schon längst sind sie zu Bildungsvollzugsbeamten geworden», konstatiert er, «und die Kinder [seien] keine Schüler mehr, sondern Vollzogene».vii

Der Dichter als Seismograph und präziser Beobachter pädagogischer Wirklichkeit? Bichsels Worte wären bedenkenswert.


1 Peter Bichsel (1969), Kindergeschichten. Neuwied und Berlin: Luchterhand Verlag.
2 Ders. (1985), Schulmeistereien. Darmstadt: Luchterhand Verlag, S. 7
3 Ebda., S. 15
4 In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17
5 So erzählt es Bichsels Dichterfreund Franz Hohler, der in Olten den gleichen Primarlehrer hatte, zeitlich allerdings etwas versetzt, in: „Mit ihm stirbt ein spezifisches Stück Literatur“. NZZ, 18.03.2025, S. 30.
6 Hans Aebli (2011), Zwölf Grundformen des Lehrens Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. 14. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 33ff.
7 Peter Bichsel (2015), Kinderarbeit im Bildungsvollzug, in: Ders., Über das Wetter reden. Kolumnen 2012-2015. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33f.

Autonom wird man durch Emanzipation

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Der Schweizer Psychologe und Gerichtsgutachter Hans-Werner Reinfried mit seinem Roman (Foto: Karin Sigg)

 

Da spricht ein Wissenschafter und da erzählt gleichzeitig ein menschennaher Analytiker. Hans-Werner Reinfried, Psychologe und Gerichtsgutachter aus dem zürcherischen Uster, beschreibt die atmosphärischen Phänomene des Erwachsenwerdens in heutigen Kontexten. Er giesst sie in die Form des Romans. Eine geglückte Wahl.

Von Carl Bossard

«Verlust. Ein Grundproblem der Moderne» – So betitelt der deutsche Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz seine Analyse der Gegenwart und ihrer widersprüchlichen Dynamiken. (1) Die Studie beschreibt die Verlusterfahrungen moderner westlicher Gesellschaften. Im Grossen und im Kleinen, im gesellschaftlichen Makrokosmos wie in der Mikrowelt des persönlichen Lebensalltags. So hat heute beispielsweise nicht mehr «jedes Kind das Recht, nicht verwöhnt zu werden», wie es ein Ostschweizer Bildungsdirektor vor einiger Zeit ausgedrückt hat. Er bezeichnete es als «Verlust». Verluste gab es schon immer; sie sind grundsätzlich nichts Neues und gehören zum menschlichen Dasein. Doch sie mehren sich, weil die Erwartungen gewachsen sind.

Wenn Grundhaltungen beliebig werden
Mit vielen und oft widersprüchlichen Erwartungen sind auch Jugendliche konfrontiert. Von den Eltern und von der Schule her, von Peergroups und vom Beruf her. Das Erwachsenwerden in Zeiten kultureller Modernisierungen wird anspruchsvoller. Wertordnungen lösen sich auf oder vervielfältigen sich; konsequente Grundhaltungen weichen nicht selten einem Modus der Beliebigkeit.

Das bedeutet für heutige Jugendliche einen deutlich anderen Sozialisationskontext als für die Jugendgeneration der 1970er- und der 1980er-Jahre. Sie war noch in verbindlichere Pflichtwerte und normenregulierte Strukturen, vielleicht sogar Traditionen eingebunden und konnte dagegen aufbegehren und sich davon ablösen. Die damalige junge Generation reagierte mit ihren Lebensstilen auf eine kulturelle Überstrukturierung. (2)

Aufwachsen in einer unterstrukturierten Welt
Die Bindekraft von Herkunftsmilieus und Institutionen wie Schule und Vereinen hat heute deutlich nachgelassen. Die junge Generation wächst nicht selten in einer entstrukturierten, teilweise gar unterstrukturierten Welt auf, einer Gesellschaft, in der immer mehr möglich, immer weniger vorgegeben und mit Blick auf Zukunft vieles unklar ist. Die erhöhte Unübersichtlichkeit moderner Lebenswelten!

Das hat Konsequenzen. Der Psychologe und Gerichtsgutachter Hans-Werner Reinfried aus Uster bei Zürich kennt und beschreibt sie aus seiner reichen Berufserfahrung heraus. Er wählt dazu die Form des Romans. (3) Entstanden ist eine eindrückliche Lebensgeschichte. Sie beleuchtet vielfach Unbekanntes oder von aussen Unerkanntes. Ein aktueller, gesellschaftlich-sozialer Augenöffner! Der Zusatztitel vom «lauten Frühling» erinnert wohl gezielt an Frank Wedekinds Kindertragödie «Frühlings Erwachen». Auch Reinfried nimmt die Nöte und Schlüsselschwierigkeiten junger Menschen auf – wie Wedekind in seinem gesellschaftskritischen Drama um 1900.

Wohlbehütete Jugend
Robin Hauser, so heisst Reinfrieds fiktive Figur, wächst als Einzelkind in einer Zürcher Vorortsgemeinde auf – in wohlbehüteter Atmosphäre und als «Schmuse-Baby» auch Bindefaktor zwischen Mann und Frau. Der Vater arbeitet, die Mutter wirkt zu Hause. Materiell fehlt es Robin an nichts. Ganz im Gegenteil! Er wird verwöhnt, lebt sozial isoliert, ohne den notwendigen Halt und den gleichzeitigen wohlwollenden Widerstand. Grenzen erfährt er keine, auch in der Schule nicht. Robin hat nur sich selbst; dabei bräuchte er die andern. Kindheit und Primarschule durchlebt er darum «im diffusen Dämmerzustand».

So erstaunt es nicht, dass er seine erste Lehrstelle nach nur einem Jahr abbricht und auch die zweite Berufslehre als Autolackierer nach kurzer Zeit aufgibt. Doch zu Hause findet er kein Daheim. Die Enge im Elternhaus wird ihm zur Qual. «Die ewige Fragerei, ob es ihm gut gehe, ob ihm etwas fehle, ob er genug gegessen habe oder warm angezogen sei, warum er nicht häufiger von seinen Erlebnissen berichte […], hatte er satt.» Er zieht weg.

Strassenbauer oder Plattenleger?
Halt sucht Robin in der Gleichaltrigen-Szene. Er will dazugehören; so erfährt er, wie seine Kumpel mit ihrem Alltag zurechtkommen. Er selber hat keine Ahnung, was ihm wichtig ist. Imaginäre Ideale, irreale Phantasien, Grössenwünsche dominieren – mit entsprechenden Selbstwert- und Schamkonflikten. Dazu kommen erste Liebesbeziehungen. Sie scheitern. So sucht er wieder die Nähe seiner Eltern. Doch Robins Nöte werden nicht angesprochen; alles bleibt offen, alles mäandriert im Vagen. Das Zuhause bietet weder Halt noch Struktur. Robins Scheitern wird der Gesellschaft zugeschrieben.

Endlich holt er sich Hilfe; er sucht einen Berufsberater auf. Allerdings hat er keine Vorstellung von seiner Zukunft und noch viel weniger, «was er lernen oder arbeiten möchte». Vielleicht als Kapitän auf einem Zürichsee-Schiff? – der prächtigen Uniform wegen! Der Berufsberater bespricht mit ihm zwei Optionen: Strassenbauer oder Plattenleger. Strassenbauer sei äusserst streng, warnen ihn seine Kollegen. Bei einem Plattenleger kann er eine einwöchige Probezeit absolvieren.

Der Lehrmeister als väterliche Autorität
Im Plattenleger Reichle trifft Robin auf einen verständnisvollen Lehrmeister und Ansprechpartner. Konsequent und einfühlsam zugleich, standhaft und nachsichtig in einem: eine väterliche Autorität, die stützt und führt, ohne aber autoritär zu sein. Robin spürt, wie er gebraucht wird: das belebende Gefühl, nützlich zu sein und dabei Sinn zu erfahren, Verantwortungssinn und das Bewusstsein, dass es auf ihn ankommt! Sein Arbeitsalltag ist strukturiert. Das kompensiert Robins bisherige Diffusionserfahrungen. Er findet so zu einer gekonnten «Selbstpräsentation». Sein sicheres Auftreten hilft ihm auch in der Schule.

Die Berufslehre und ein verständnisvoller Lehrmeister holen Robin aus der isolierten Eigenwelt in eine sinnvolle Tätigkeit. Das ermöglicht ihm einen Einstieg ins Erwachsenenleben. Einige seiner Cliquen-Freunde haben weniger Glück.

Halt und freundlicher Widerstand
Reinfrieds Roman skizziert fiktive Figuren mit realem Leben. Aus seinem Werk sprechen grosse Berufserfahrung, feinfühliges Menschenverständnis und der unaufdringliche Wille, benachteiligten Jugendlichen zu helfen. Junge Menschen – und davon ist Reinfried zutiefst überzeugt – brauchen ein vernünftiges und vitales Visavis, sie brauchen den anderen. In ihm kommen sie zu sich selbst. Es ist ein Gegenüber, das sie anregt und belebt und erzieherisch auch führt.

Sich selber in verantworteter Freiheit führen, das müssen junge Menschen erst lernen. Das kommt nicht von selbst. Autonom werden sie durch Emanzipation – über Halt und freundlichen Widerstand. Der Mensch wächst am Widerstand. Das zeigt der Roman auf eindrückliche Weise – im Gelingen wie im Scheitern. In diesem Sinne offeriert Reinfrieds Schrift wichtige Impulse für Familie, Schule, Lehre – als angemessene pädagogische Antwort auf zeittypische Verlusterfahrungen. Sie ist ein Lösungsansatz für aktuelle Probleme heutiger Jugendlicher.


  1. Andreas Reckwitz (2024), Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag.
  2. Thomas Ziehe (o.J.), «Was bewegt die Jugendlichen?», Msc. unpubl., S. 4.
  3. Hans-Werner Reinfried (2024), Veränderlich – oder des Lebens lauter Frühling. Roman. St. Gallenkappel und Heidelberg: Edition Königstuhl.

Von bildungspolitischen Schlafwandlern

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Verstehen wir uns in der Schweiz bald nur noch auf Englisch? Zeichnung im Rahmen einer viersprachigen Austauschwoche: José de Nève (1933-2019), Stans (Bild: Carl Bossard)
Verstehen wir uns in der Schweiz bald nur noch auf Englisch? Zeichnung im Rahmen einer viersprachigen Austauschwoche: José de Nève (1933-2019), Stans (Bild: Carl Bossard)

Seit Jahren kennt die Schweizer Volksschule von den Lernerfolgen her nur eine Tendenz: abwärts. Doch die Schweizer Bildungsdirektoren wollen weiterfahren wie bisher. Auch bei den frühen Fremdsprachen. Den deprimierenden Testresultaten zum Trotz. Ein Zwischenruf.

Von Carl Bossard

«En Suisse on s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas», sagen die Waadtländer: «In der Schweiz kommen wir gut miteinander aus, weil wir uns nicht verstehen.» Das welsche Scherzwort wird bittere Realität. Das zeigt die jüngste Sprachstudie der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren der Schweiz (EDK). Die sogenannte Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK 2023) untersuchte die Sprachkompetenz von 18‘500 Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit – in der Deutschschweiz Französisch als Fremdsprache und Deutsch als Schulsprache.(1)

Nach 500 Lektionen Französisch kaum ein Satz
Die Resultate dieses nationalen Sprachtests ernüchtern. Lediglich 51 Prozent der Schüler erreichen im Fach Französisch die Lese-Grundkompetenzen, also die niedrigste Könnensstufe beim Leseverstehen. Konkret: Sie begreifen einfachste Sätze wie «Où est la gare?». Die andere Hälfte ist damit bereits überfordert. In lernschwachen Klassen erreichen oft nicht einmal 10 Prozent dieses Grundniveau. Drastisch formuliert bedeutet das: Nach 500 Lektionen Französisch verstehen sie kaum einen Satz! Eine solche Bilanz ist verheerend – dies in einem Land, das den Mythos der Viersprachigkeit pflegt. Getröstet haben sich die Verantwortlichen, dass die Testergebnisse beim französischen Hörverstehen minim besser ausgefallen sind.

Eigentlich wissen wir es längst: Es steht nicht gut um die Sprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz. Das Können sinkt, auch beim Leseverständnis deutscher Texte. Die jüngsten Ergebnisse bestätigen, was uns die PISA-Resultate seit 2012 zeigen: einen deutlichen Negativtrend. In den Grundlagenfächern gilt jeder vierte Schüler als «lernleistungsschwach», wie es in der Bildungssprache heisst. Konkret: Er kann nur ungenügend lesen, schreiben, rechnen. Seit Längerem warnt der Bildungsforscher Stefan C. Wolter, Universität Bern, vor dieser Abwärtsspirale.(2)

Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen (Grafik: © Statista 2024)
Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen (Grafik: © Statista 2024)

 

Wir wissen es seit Langem! Doch handeln?
Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger «Beyond Age Effects» stellte den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen früh infrage. (3) Auch Im Raum Zentralschweiz ist seit fast zehn Jahren klar, dass Französisch auf Primarschulstufe ungenügende Resultate erbringt. Die Fremdsprachenevaluation der Bildungsdirektoren-Konferenz Zentralschweiz (BKZ) brachte es 2016 an den Tag. Dann wurden Förderprogramme entwickelt, und nun müssen die Verantwortlichen – oh Wunder! – feststellen, dass diese Massnahmen nichts gebracht haben.

Die Befunde wären klar, die Resultate eindeutig. Doch die bildungspolitische Karawane zieht weiter! Ungerührt und ungestört. Im bekannten EDK-Speech wird beschönigt: Alles halb so schlimm. Wir müssen nur da und dort etwas nachbessern – und eine weitere Studie in Auftrag geben. Auf gut Deutsch: Wir machen weiter wie bisher! Dies der Tenor von Christoph Darbelley (Die Mitte, Wallis), Präsident der EDK, und seinem Vize Armin Hartmann (SVP, Luzern) an der Pressekonferenz vom 22. Mai 2025. Sie glauben, sie stört kein Zweifel. Eine Umkehr kommt für die EDK-Verantwortlichen darum nicht infrage, eine Abkehr von den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarschulstufe scheint ausgeschlossen. Die Schweizer Bildungspolitik verschliesst die Augen.

«Notfall» Klassenzimmer
Längst aufgegangen sind die Augen den Lehrerinnen und Lehrern im pädagogischen Parterre. Sie erfahren täglich, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Und sie wissen: Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt.

Dazu kommt, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Ein geregeltes «Schule-Halten» ist manchmal kaum (mehr) möglich. Nicht umsonst spricht die NZZ vom «Notfall» Klassenzimmer.

Die Praxiserfahrung wird negiert
Der Mikrokosmos des pädagogischen Alltags und die Sphäre der Bildungsstäbe und der Verwaltung: zwei verschiedene Welten! Hier die Welt der Pädagoginnen – dort die Welt der Pädokraten. Gute pädagogische Praxis und eine praxisfremde Bürokratie generieren wechselseitig Störfaktoren.

Manche Praktiker haben sich immer gegen zwei frühe Fremdsprachen gewehrt. Ein Diskurs war schon damals fast unmöglich; heute ist er noch schwieriger geworden. Berufserfahrene Lehrer spüren: Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie und den Verbänden – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Diese Kreise bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker des pädagogischen Alltags. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie.

Aufwachen, bitte!
Vielleicht gilt das waadtländische Bonmot auch für diese beiden Welten: «On s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas.». Man kommt zwar irgendwie miteinander aus, aber man versteht sich nicht mehr. Das ist fatal. Nicht nur für die Lehrerinnen und Lehrer. Fatal ist es vor allem für schwächere und fremdsprachige Kinder. Sie werden mit der ersten Fremdsprache konfrontiert, bevor sie in der Schulsprache richtig lesen und schreiben können – geschweige denn Texte verstehen. Dass damit vor allem die Freude an der französischen Sprache verloren geht, verschlimmert die Sache noch.

Die Testresultate sind ernüchternd und machen hellhörig. Es wäre darum Zeit aufzuwachen. Schlafwandeln hat Folgen.


  1. https://www.edk.ch/de/die-edk/news/mm22052025 [abgerufen: 25.05.2025]
  2. Sebastian Briellmann, «Wir sind im Blindflug». Interview mit Stefan Wolter, in: NZZ, 04.03.2025, S. 9
  3. Simone E. Pfenninger, David Singleton (2017), Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning. Revisiting the Age Factor. Bristol: Multilingual Matters

Wenn Bildungsreformen Privilegierte bevorteilen

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Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach (Bild: zVg)

Bildungsgerechtigkeit! Ein grosses Wort. Bildungsforscher führen es gerne im Mund – als Imperativ für Schulreformen! Doch der radikale Umbau des Unterrichts hat eher das Gegenteil bewirkt. Ein kluger Essay des Erziehungswissenschaftlers Roland Reichenbach, Universität Zürich, erhellt die Zusammenhänge.

Carl Bossard

Zum rituellen Kahlschlag der 68er gehörten auch Mythen. Radikal räumten sie mit ihnen auf. Auch Tell ging es an den Kragen – nicht nur mit Max Frischs Gegengeschichte «Wilhelm Tell für die Schule». Mythen wurden für irrelevant erklärt und die Narrative guter Geschichten amputiert. Sie fielen dem Faktencheck zum Opfer und verschwanden. Später tauchten sie andernorts und in anderer Form wieder auf, beispielsweise im Schulwesen.

Von den sieben Mythen des Lernens
Pädagogische Mythen prägten und bestimmten den Bildungsdiskurs der vergangenen Jahre. Mit apodiktischer Wucht wirkten sie – Widerspruch unnütz! Wer beispielsweise das frühe digitale Lernen oder die beiden Fremdsprachen auf der Primarstufe kritisch kommentierte, landete sehr schnell in der Ecke der Ewiggestrigen.

In seiner neuen Publikation «Die Pädagogik der Privilegierten» hinterfragt der Ordinarius für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Zürich, Roland Reichenbach, solch gängige Vorstellungen.(1) Dazu gehörten Prinzipien wie «Selbstorganisiertes Lernen SOL» und «Eigenerfahrung», «Auf gleicher Augenhöhe» oder «Vom Lehren zum Lernen». Die Mythen des Lernens, so der Hochschullehrer, seien inhaltlich eng miteinander verbunden. Er reiht sie ein unter die beiden mythisch überhöhten Hauptbegriffe «Eigenverantwortung» und «Individualisierung».

Roland Reichenbach (2025), Die Pädagogik der Privilegierten

Hohe Erwartungen an schwache Begriffe
Diese kategorisch formulierten Absichten bezeichnet Reichenbach als modische, oft unbewiesene Überzeugungen; sie kämen Axiomen gleich. Doch nicht die «Eigenerfahrung» an sich – um ein Beispiel zu nennen – sei der eigentliche Mythos. Mythisch sei die Bedeutung, die diesem Phänomen beim Reden über das Lernen zugeschrieben werde. Der übertriebene Stellenwert und die bedauerliche Einseitigkeit im pädagogischen «Diskurs» machten den Mythos der «Eigenerfahrung» aus.(2) Damit verbunden seien implizit oder explizit viel zu hohe Erwartungen an den jeweiligen Begriff. Der pädagogische Alltag könne diese Verheissungen meist gar nicht einlösen. Wenn Bildungsversprechen und Schulwirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Das zeigt sich auch beim Frühfranzösisch.

Mythen verstärken soziale Unterschiede
Eigentlich wissen wir es schon lange. Doch manche Bildungsexperten zeigen sich erkenntnisresistent: Die vielen Innovationen in den Lehr- und Lernformen bringen nicht das, was sie prophezeien, nämlich bessere Lernleistungen für alle. Und ebenso wenig generieren sie gerechtere Bildungschancen für Kinder aus engen sozialen Verhältnissen.

Das Absurde am Ganzen: Mit den vielen Innovationen benachteiligt die Schule genau solche Kinder. Dies geschieht paradoxerweise durch das, was diese Jugendlichen in ihrer Selbstständigkeit vermeintlich fördern und stärken soll. Der Grund: Wer wegrückt vom dialogischen Lernen in der Klassengemeinschaft und hinzielt zum selbstorganisierten Individuallernen, privilegiert bestimmte Schüler und verstärkt gleichzeitig bestehende Unterschiede.

Der Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben.
Die Bildungsschere zwischen Kindern aus sogenannt bildungsnahem Elternhaus und jenen aus einem angeblich bildungsfernen Sozialmilieu weitet sich. Die aktuellen Vergleichsstudien und ihre Resultate verdeutlichen es. Roland Reichenbach, selbst ausgebildeter Primarlehrer, hat ein feines Sensorium für solche Entwicklungen. Eine seiner Kernthesen: Eine Pädagogik, die das einzelne Kind und sein selbstorientiertes Lernen ins Zentrum rückt, fördert vor allem leistungsstarke und privilegierte Kinder. Sie profitieren von dieser Freiheit und vom selbständigen, eigenverantworteten Lernen. Daran sind sich von daheim aus eher gewohnt. Das Elternhaus bringt Bildungsvorteile. Wer hat, dem wird gegeben: der berühmte Matthäus-Effekt!

Lernschwächere Schüler dagegen bräuchten einen stärker angeleiteten Unterricht; sie wären angewiesen auf klare Vorgaben und eine stützende Strukturierung der Arbeitsabläufe. Und sie kommen nicht ohne regelmässiges und intensives Üben aus. Doch vieles davon gilt Bildungsreformen als zu wenig fortschrittlich und zu lehrerzentriert. Damit unterstützen sie bereits bevorteilte Kinder – und verschleiern gleichzeitig die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern einer Klasse.

Guter Unterricht lebt vom Dialektischen
Roland Reichenbach ist kein Mythen-Zertrümmerer. Ganz im Gegenteil. Er zeigt lediglich auf, dass pädagogischen Mythen vielfach der gleichwertige Gegenbegriff fehlt. Was bedeuten beispielsweise die reformpädagogischen Edelvokabeln «aktives» Lernen, «offenes» Lernen?, fragt sich Reichenbach. Und weil den Mythen das Komplementäre fehlt, forcieren sie eine «Vereindeutigung» des pädagogischen Denkens.(3)

Doch guter, bildungswirksamer Unterricht ist ein dialektischer Prozess, ein Sowohl-als-auch, kein Entweder-oder. Dazu gehören beispielsweise das Zusammenspiel zwischen Instruktion und Konstruktion, das Junktim zwischen dem lehrergelenkten Impuls-Geben und dem schülerzentrierten Selber-Tun, die Wechselwirkung zwischen Freiheit gewähren und den Schülern gleichzeitig Halt und Sicherheit vermitteln. Das Anspruchsvolle der Bildungsprozesse, das Dialektische! Es ist die Kombination von zwei Handlungen, die sich vordergründig widersprechen und gleichzeitig bedingen, beispielsweise standhaft sein und zugleich nachsichtig, flexibel bleiben und doch konsequent sein. Das wieder zu erkennen und zu praktizieren, dafür macht sich Roland Reichenbach stark. Er tut dies unaufgeregt, undogmatisch.

Als Verehrer der heiligen Dialectica weiss er um die Spannungsfelder des pädagogischen Alltags und ihren konstitutiven Wert. Reichenbachs kluger Essay «Die Pädagogik der Privilegierten» regt hier zum (Nach-)Denken an.

Die Farben der Schule sind die Zwischentöne
Ein persönliches Postskriptum: Es kommt mir vor, als müssten wir zuerst wieder Hell und Dunkel erkennen und uns so bewusst werden, dass dies bloss zwei Pole sind. Dazwischen liegen unzählige Schattierungen. Vielleicht sind die Farben der Schule eben die Zwischentöne. Oder konkret und als dialektische Antithese zum Mythos «Selbstorganisiertes Lernen SOL» formuliert: So viel Autonomie der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung und Hilfe durch die Lehrerinnen und Lehrer wie nötig. Damit wäre lernschwächeren Kindern und der Bildungsgerechtigkeit weit mehr gedient als mit falsch verstandenen Mythen. Roland Reichenbachs drängendes Anliegen!


  1. Roland Reichenbach (2025), Die Pädagogik der Privilegierten. Ein Essay. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
  2. a.a.O., S. 15
  3. Vgl. Thomas Bau

Die Lehrpläne wachsen, die Lernleistung sinkt

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NZZaS – Der externe Standpunkt (29.6.2025, S. 23)

Der Schweizer Lehrplan 21 definiert auf 470 Seiten insgesamt 363 Kompetenzen sowie 2304 Kompetenzstufen, die intensiv getestet werden. Und doch sinken die Lernleistungen. Die schweizerische Bildungspolitik muss aufwachen, findet Carl Bossard

Ehemalige Schüler schwärmen noch heute von seinem Unterricht. Der Lehrer und Autor Peter Bichsel selber sagte: «Damals hatte man eine Schulstube, in der man schalten und walten konnte, wie man wollte. Der Lehrplan bestand aus zwanzig Seiten, und zwar für die gesamte Primarschule von der ersten bis zur sechsten Klasse. Inzwischen sind das richtige Wälzer.» – Bichsel und die pädagogische Freiheit!

Und er ergänzte: «Ich musste damals im Jahr genau zwei Formulare ausfüllen: eins mit der Liste aller Schüler, mit Geburtsdatum und Heimatort; dazu einen Jahresbericht von einer A4-Seite, wo man angab, was man in dem Schuljahr so gemacht hatte. Heute haben die Lehrer jeden Tag mindestens eine Stunde Büroarbeit. Daran wäre ich wohl gescheitert, nicht an den Schülern, aber an der Bürokratie.»i – Bichsel und der pädagogische Papierkram!

Wenn das Pädagogische zum ISO-9000-Projekt wird
Die Zeiten sind anders geworden; die Zivilisationsdynamik hat vieles verändert. Das gilt auch für die Schweizer Volksschule. Seit bald 30 Jahren wird unser Bildungssystem tüchtig umgebaut und ausgebaut. Moderner sollte die Schule werden und wirksamer! Zeitgemäss und zukunftsorientiert! Viele Bildungspolitiker setzten allerdings Bildung mit ihrer Reform gleich.

Promotor des Umbaus war der Zürcher Regierungsrat Ernst Buschor. Er unterzog zuerst das Spitalwesen und ab Mitte der 1990er-Jahre auch die Volksschule einer Radikalreform. Der St. Galler Hochschullehrer für Finanzwirtschaft glaubte an die konsequente Effizienzorientierung von Bildungssystemen, an ihre Mess- und Kontrollierbarkeit: das Pädagogische als ISO-9000-Projekt!

Kleinteilig formulierte Kompetenzstufen
Die Schule sollte sich in eine wirkungsvolle Organisation verwandeln, gesteuert von der Bildungsverwaltung. Entsprechend kräftig ist die Administration gewachsen. Buschor hielt das Betriebswirtschaftliche und das Pädagogische für vereinbar – mit entsprechenden Managementmethoden. Sein Credo: Organisationen sind dann effizient, wenn es gelingt, Prozesse zu vereinfachen und Abläufe zu vereinheitlichen. Das ist das eine. Dazu kamen unter anderem zwei frühe Fremdsprachen, der Wechsel vom dialogischen Lernen in der Klassengemeinschaft hin zum selbstorientierten Individuallernen und die forcierte Integration ganz unterschiedlicher Kinder.

Die Akzente von Unterricht und Lernen verschoben sich. Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu vermitteln haben. Detailliert dekretiert und genau geregelt ist nun, was die Schülerinnen und Schüler am Ende einer Zeiteinheit können müssen. Der Lehrplan 21 definiert auf 470 Seiten 363 Kompetenzen sowie 2’304 Kompetenzstufen.ii Alles sehr kleinteilig! Die staatliche Schulstrategie stellte von der Input- auf die Output-Steuerung um. So sollte die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und die Unterrichtqualität am Outcome gemessen werden. Gemäss Lehrplan 21 lässt sich jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren und überprüfen. Entsprechend wird getestet. Das Kind und sein abrufbarer Output!

Wenn der pädagogische Sinn verloren geht
Diesem Zweck dienen auch die internationalen Schulleistungsvergleiche wie PISA. Nötig sind nationale Bildungsstandards. Sie beschreiben, welche Grundkompetenzen (GK) die Schülerinnen und Schüler während der obligatorischen Schulzeit erwerben sollen. Wer Standards hat, braucht schematisierte Vergleichstests – wie beispielsweise die ÜKG, die Überprüfung der Grundkompetenzen. Standards beschränken Bildung auf ein enges Spektrum von vermessbaren Kompetenzen. Aus der Forschung wissen wir aber, dass eine solche Leistungsdifferenzierung kaum Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler hat.

Und noch etwas zeigt die Wissenschaft: Die wachsende Schematisierung des Unterrichts reduziert die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte, und sie schränkt Kreativität und Vielfalt ein. Ausserdem führt sie – und das ist das Tragische – zu einem Verlust an pädagogischem Sinn.iii

Vieles geschieht, weniges wirkt!
Ob dieses leidige Faktum mit ein Grund für die sinkenden Lernleistungen unserer Schulabgänger ist? Die Resultate der elementaren Kulturtechniken wie beispielsweise Lesen und Schreiben werden seit Jahren schwächer. Konkret: Ein Viertel der Schüler versteht nach neun Schuljahren einen einfachen Text nicht richtig. Das kümmert die Verantwortlichen in den Stäben und an den Pädagogischen Hochschulen kaum. Eigentlich sollten alle Warnlampen leuchten! Doch der Rektor der PH Bern findet diese Tatsche «nicht besorgniserregend». Benachteiligt sind – einmal mehr – lernschwächere Jugendliche. Die Bildungspolitik müsste sich längst bewusst werden: Vieles geschieht; weniges wirkt.

Peter Bichsel hatte grosse Freiheit und kannte keine Kontrollbürokratie. Er konnte kreativ wirken. Einer seiner Schüler schreibt: «Ich bin überzeugt, dass ich nur dank Peter Bichsel später im Beruf erfolgreich war.»

In: NZZ am Sonntag, 29.06.2025, S. 23.

  1. Peter Bichsel (2018), Was wäre, wenn? Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel. Zürich: Kampa Verlag AG, S. 135.
  2. Vgl. https://www.lehrplan21.ch/ [abgerufen: 26.06.2025]
  3. Richard Münch/Oliver Wieczorek (2025), Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda. Weinheim-Basel: Beltz Juventa, S. 247.


Carl Bossard, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Mittelschulrektor in Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.